Wie kann/ wie soll Informatik damit umgehen, dass es mehr als zwei Geschlechter gibt?
RyLee Hühne und Cornelia Breitenstein
(FH Südwestfalen, Iserlohn/ msg systems ag)
Workshop 11:00 – 12:00 Uhr
Bei Anmeldungen für Veranstaltungen oder auf Websites gibt es meist zwei Auswahlmöglichkeiten, wenn es um das Geschlecht geht: weiblich oder männlich. Ein Blick auf die Lebensrealität und auch auf die Rechtslage zeigt jedoch ein anderes Bild: Seit Dezember 2018 gibt es einen dritten positiv benannten Geschlechtseintrag, „divers“. Schon seit 2013 ist es außerdem möglich, den Geschlechtseintrag leer zu lassen. Thema des Workshops von RyLee Hühne und Cornelia Breitenstein war, was das für Prozesse in Unternehmen und IT-Systemen bedeutet.
RyLee Hühne hat Informatik in Dortmund studiert, promoviert und danach im IT-Consulting gearbeitet. Sie engagiert sich an der FH Südwestfalen/ Iserlohn für das Thema Gender und ist unter anderem in der bukof-Kommission für queere* Gleichstellungspolitik an Hochschulen aktiv. Cornelia Breitenstein arbeitet als Software-Architektin mit dem Schwerpunkt Anforderungsmanagement für msg-systems, ein großes IT-Beratungsunternehmen. Davor hat sie viele Jahre eine Versicherungsbestandssoftware bei den Ergo-Auslandstöchtern implementiert, bevor sie in die Kernentwicklung gewechselt ist. Im Rahmen ihrer Arbeit ist sie häufig mit der Frage konfrontiert: Woher kommen die Anforderungen und wer bezahlt sie? Cornelia Breitenstein berichtete, dass sie ihre ausschließlich männlichen und älteren Kollegen schon seit Jahren davon überzeugen möchte, das dritte Geschlecht im Partnersystem des Unternehmens zu berücksichtigen. Dabei stieß sie häufig auf das Gegenargument, dass das nur 0,8 % der Bevölkerung betrifft. Die Gesetzesänderung, dass ein drittes Geschlecht im Standesamt registriert werden kann, hat dem Thema den nötigen Zug gegeben, sodass Cornelia Breitenstein es im Team näher vorstellen durfte. Auch da bekam sie weniger Resonanz als erhofft.
Bevor gemeinsam praktische Lösungen entwickelt werden sollten, gab RyLee Hühne einen theoretischen Input zum Thema Geschlechtervielfalt und IT-Prozesse. Wenn es um Geschlechter geht, wird häufig auf die Biologie verwiesen. Dabei haben Biologinnen und Biologen herausgefunden, dass es Tierarten gibt,
- bei denen die einzelnen Lebewesen zwittrig sind
- die generell nur als ein Geschlecht vorkommen
- bei denen das Geschlecht von der Umgebungstemperatur während der Entwicklung abhängt
- bei denen Individuen aufgrund eines sozialen Auslösers das Geschlecht wechseln
- bei denen die Fortpflanzung ungeschlechtlich stattfindet
Auch in der Kultur und historischen Werken tauchen Individuen auf, die nicht eindeutig einem Geschlecht zugeordnet sind. Wissenschaft wird, wie die Technik, von Menschen gemacht und entwickelt sich. Wenn Menschen mit einem zweigeschlechtlichen Blick auf die Welt schauen, sehen sie auch nichts anderes.
Ein drittes Geschlecht zu berücksichtigen, ist in der technischen Umsetzung nicht schwierig – warum passiert es in den meisten Fällen trotzdem nicht? „Warum überhaupt Kategorien?“ stand außerdem als offene Frage aus dem Publikum auf dem Whiteboard. RyLee Hühne ging kurz auf die Möglichkeit ein, das Geschlecht generell in der Rechtsordnung abzuschaffen. Dabei ist allerdings zu bedenken, dass dann eine Benachteiligung ggf. nicht mehr erkennbar ist.
Nach der Gesetzesänderung 2013, die zum Teil für Verwirrung sorgte (Wurde der Eintrag vergessen? Hat der Mensch, der den Eintrag leer lässt, gar kein Geschlecht?) hat das Bundesverfassungsgericht Ende 2017 festgestellt, dass der Gesetzgeber einen Auftrag hat, mehr Personengruppen zu berücksichtigen. Es gibt Menschen, die durch eine biologische Konstitution kein eindeutiges Geschlecht haben, aber auch welche, die in der Gesellschaft anders auftreten wollen. Mit der Einführung des dritten positiven Geschlechtseintrags wurden nur Teile des Auftrags umgesetzt. Weltweit liegt Deutschland damit im Mittelfeld: In vielen anderen Ländern ist es möglich, mehr als zwei Geschlechter sichtbar werden zu lassen.
Was bedeutet das für Unternehmen? In vielen Situationen (Studien, IT-Systeme, Personaldaten, Geschäftslogik z. B. bei Versicherungstarifen,...) spielt das Thema eine Rolle. Wichtig ist in diesem Zusammenhang: Keiner Person soll das Geschlecht abgesprochen werden. Oft sind es Männer, die die Sorge haben, kein Mann mehr sein zu dürfen. Besonders am Beispiel Kundenansprache zeigt sich: Es ist vergleichsweise einfach, dort eine Änderung umzusetzen, und dennoch passiert es nur sehr selten. Dabei kann es ein Türöffner sein für andere, komplexere Themen, wie Gender Pay Gap, Bias bei Beförderungen u. v. m. Eine kleine Änderung wie die Kundenansprache kann der Anlass sein, veraltete Strukturen ins Wanken zu bringen.
An dieser Stelle zeigte RyLee Hühne mehrere positive und negative Beispiele, z. B. ein Bibliotheksausweis und Online-Bestellformulare. Häufig reicht es nicht, den vollständigen Namen anzugeben. Die Angabe des Geschlechts ist in den meisten Fällen erforderlich, Argumente dafür beziehen sich z. B. auf die Postzustellung. Bei der Beantragung von Arbeitslosengeld kann „intersexuell“ ausgewählt werden, doch nicht ohne die Entscheidung treffen zu müssen, ob die Person „eher Mann“ oder „eher Frau“ ist. Positive Beispiele lassen die Geschlechtsangabe ganz weg oder bieten mehr Auswahlmöglichkeiten für die Anrede („Wie möchten Sie angesprochen werden?“ – „Sehr geehrte Frau“, „Sehr geehrter Herr“, „Guten Tag“, „Guten Morgen“,…). Solche Lösungen sind in der IT sehr einfach umzusetzen.
Mit Blick auf das Whiteboard, an dem die Teilnehmerinnen und Teilnehmer in einer ersten Brainstorming-Runde Ideen und Fragen gesammelt haben, bildeten sich folgende Themencluster heraus:
- Sinn des Binären
- Sichtbarkeit des dritten Geschlechts
- Privacy
- Inklusion in der Formularsprache – Wie können diverse Menschen höflich angesprochen werden?
- Wie schreibt sich Geschlecht in Technik ein? (Beispiel: humanoide Roboter)
In kleinen Gruppen widmeten sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer diesen Themen. Es galt, die Problemstellung zu konkretisieren und ein Grobkonzept zu erarbeiten, was das für das eigene Unternehmen bedeutet – unter Berücksichtigung der Nutzerinnen und Nutzer und rechtlichen Anforderungen. Beim Abschluss im Plenum wurde deutlich, dass viel mehr Aspekte diskutiert wurden, als detailliert bearbeitet werden können. Deshalb stand am Ende die Frage im Vordergrund: Was bringt das Thema nach vorne, was hilft?
- Bewusstes Ansprechen von Stereotypen, Prozess der Sensibilisierung unterstützen
- Über Möglichkeiten diskutieren, bestehende Kategorien aufzulösen
- Vielfalt bei Kundinnen und Kunden berücksichtigen
- Altes Denken aufbrechen und die Personalisierungsalgorithmen nutzen, um individuell auf die Bedürfnisse der Nutzerinnen und Nutzer einzugehen
- Das Argument der Datensparsamkeit (hinterfragen, warum gewisse Daten überhaupt erhoben werden müssen)
- Vorteile von agilen Softwareentwicklungsprozessen nutzen: Geschlechtervielfalt von Beginn an mitdenken; alle Beteiligten erinnern, dass die kleinteiligen Schritte bei der Entwicklung einer Software Teil von einem großen Ganzen sind; Nutzerinnen und Nutzer partizipativ einbinden
Die Community, die IT-Prozesse gestaltet, ist kein repräsentativer Ausschnitt aus der Gesellschaft – weder mit Blick auf den Altersdurchschnitt, noch bezogen auf das Geschlecht. Schon seit vielen Jahren gibt es viele feministische Ansätze, die Technikkritik üben – die Frage, ob Kategorien nötig und sinnvoll sind, stellt sich allerdings nicht nur bezogen auf das Geschlecht, sondern auch auf die Hautfarbe oder die soziale Herkunft. Es geht generell darum, Produkte zu entwickeln, die den Bedürfnissen der Nutzerinnen und Nutzer entsprechen und am Markt angenommen werden.
Cornelia Breitenstein stellte am Ende die Frage: Wie kann man im eigenen Unternehmen Motivation für das Thema Geschlechtervielfalt schaffen? Eine Teilnehmerin berichtete, dass im Bereich Maschinenbau die Erfahrungen wirken, wenn Fehlentwicklungen wirtschaftliche Konsequenzen verursachen. Denn wenn eine bestimmte gesellschaftliche Gruppe bei der Entwicklung nicht mitgedacht wurde, kauft diese Gruppe das Produkt nicht. Ein Beispiel: Bei Crashtests von Autos wurden Schwangere nicht berücksichtigt, sondern lediglich männliche Normkörper.
Häufig geht es aber nicht nur um die eigene Motivation, das Thema voranzutreiben, sondern um den Umgang mit einem starken Abwehrreflex. Wie wird die Kraft aufgebracht, immer wieder dagegen zu arbeiten, ohne zermürbt zu werden? Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer waren sich einig, dass Vernetzung eine große Rolle spielt. Wenn man alleine ist und dem Widerstand nachgibt, wird sich nie etwas ändern. Auch eine externe Beratung kann helfen, im eigenen Unternehmen voranzukommen.
Mechanismen wie der Abwehrreflex, mit dem viele auf das Thema reagieren, führen zu weiteren problematischen Verhältnissen wie ungerechter Bezahlung. Es kommt nicht auf das Ausmaß einer Benachteiligung an, sondern darauf, dass sich verbündet wird, um bestehende Strukturen zu ändern. Sich dafür einzusetzen, darf kein privates Hobby sein, sondern muss ernst genommen werden.
Zum Abschluss wies RyLee Hühne auf die Plattform www.gender-gerecht.org hin, die momentan aufgebaut wird. Das Ziel des nicht-kommerziellen Angebots ist, gemeinsam zu lernen und sich über Best-Practice-Beispiele auszutauschen.
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